Archiv für die Kategorie ‘Daniel Rothschild/ Die Rothschilds, Synagogen Alzenau, Reichspogromnacht und Carl Diem Debatte in Alzenau

Daniel Rothschild- die Rothschilds, Reichspogromnacht, Bella und Israel Wahler, Judenfriedhof Hörstein, Synagogen Alzenau und Carl Diem Debatte in Alzenau

Hanauer Straße 56, Alzenau – jüdische Bewohner, Daniel Rothschild, die Rothschilds

In diesem Anwesen war zeitweilig die Metzgerei Miltenberger untergebracht, danach türkische und Thai-Gatronomie, ein Friseurgeschäft und ein Covid-Testzentrum. Zur Zeit ist dort ein Einkaufskiosk.

In diesem Haus wohnte Daniel Rothschild in und vor der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Das Haus wurde 1900 erbaut. Rothschild war Manufakturwarenhändler und wurde am 16. Februar 1881 in Hörstein geboren. Er war der Sohn des Kaufmanns Jakob Rothschild und dessen Frau Rosine Rothschild, geb. Heimann. Er machte eine Lehre zum Kaufmann in Aschaffenburg bei Abraham Stein und lebte unter anderem in Alzenau, Aidhausen und Nürnberg. Daniel Rothschild kam im Jahr 1900 nach Alzenau und stieg laut einem Eintrag des Gewerberegisters vom 12.09.1901 bei seinem Bruder Abraham Rothschild in dessen Geschäft im neuerbauten Haus Nummer Es wird berichtet, dass es eine Eisen-, Stoff,- und Huthandlung war. Sein Bruder Abraham verstarb bereits 1906. Danach wird er wohl zusammen mit Abrahams Witwe Klara das Geschäft weiter geführt haben; Klara ist in einem Hausnummernverzeichnis als Besitzerin eingetragen.

Daniel Rothschild

Daniel Rothschild

Anfang März 1942 wurden in dem Haus Hanauer Straße 56 die letzten 11 Alzenauer Juden untergebracht. Am 23. April wurden sie der Gestapo Würzburg überstellt und am 25. April 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dabei war auch Daniel Rothschild, der drei Mal abgeholt wurde und zwei Mal wieder zurück gebracht wurde. In der Erinnerung einiger Zeitzeugen ging er mit seinen Habseligkeiten, die in einer Bettdecke verstaut waren, auf dem Rücken von Alzenau weg.1

Auf der Meldekarte sind folgende Informationen über ihn zu finden: Sein erlernter Beruf war Kaufmann, er besaß kein Arbeitsbuch, er war nicht körperlich behindert, war ledig.Er war nicht länger als drei Monate im Ausland, hatte keine Fremdsprachenkenntnisse, besaß keine Erfahrungen und Kenntnisse auf einem Sondergebiet( z.B. in einem Spezialzweig der Industrie, der Landwirtschaft, der Technik oder der Wissenschaft). Er besaß keine besonderen Fertigkeiten beim Kraftfahren, Fliegen oder Reiten sowie beim Maschineschreiben und der Kurzschrift. Er war nicht im Sanitätsdienst oder im Luftschutz ausgebildet und war nicht Mitglied der „Technischen Nothilfe“ oder des „Roten Kreuzes“.2

In diesem Haus lebte auch das Ehepaar Josef und Jakobine (Binchen) Hamburger Auch Josef Hamburger war Manufakturwarenhändler und wurde am 1.7.1873 geboren. Seine Frau (geboren am 12.7.1876 stammte aus Höbst.3 Der Jude Herz Hamburger, der lange Zeit in der Synagoge wohnte und dort das Amt des Kantors innehatte, lebte ebenfalls in diesem Haus. Die Juden waren in dem Anwesen praktisch interniert. Sie wurden überwacht. Die große Hoftüre wurde abends um 20 Uhr geschlossen. Trotzdem gelang es den Nachbarn, den Juden Lebensmittel einzuschmuggeln. Dies war streng verboten.4

Vier der Alzenauer Juden wurden am 24. März 1942 mit dem zweiten Transport aus Unterfranken nach Lublin/Trawniki deportiert. Mit 150 Juden aus Aschaffenburg und Umgebung kamen die Alzenauer am 23.April 1942 um 7.34 in Würzburg an, wo sie im Platzschen Garten untersucht wurden. Am 25. April verließ der Zug mit 852 Juden Würzburg, am 28. April kam der Transport in Krasnystaw hinter Lublin an.

Die jüdische Gemeinde in Alzenau zählte 1921 78 Mitglieder. Berufsmäßig waren die Alzenauer Juden nach Einschätzung der Autoren Ophir/Wiesemann folgendermaßen gegliedert: 39 lebten vom Handel, es gab zwei Möbelfabrikanten, zwei Bäcker, zwei Schneiderinnen, einen Lehrer und einen Krankenkassenverwalter. Zudem gab es einen Rentner.5 1935 gab es in Alzenau elf Viehhändler.

Die Geschichte der Rothschilds ist mit der Stadt Frankfurt am Main eng verbunden. Seit dem 16. Jahrhundert taucht der Name auf. Über einem Haus in der Judengasse war ein rotes Schild angebracht. 1744 wurde Meyer Amschel Rothschild geboren.6 Er starb 1812. Die Familie hielt sich mit Kleinwarenhandel über Wasser und schon im 18. Jahrhundert mit Geldwechsel. Schon mit zehn Jahren wechselte Meyer Amschel im Auftrage seines Vaters Münzen. Von Frankfurt aus kommt Meyer Amschel nach Hannover ins Oppenheimische Handelshaus. Dort kommt er mit General Estorff in Verbindung, einem versierten Münzsammler. Meyer Amschel kommt über Estorff mit der Grafschaft Hanau in Verbindung. Erbprinz Wilhelm wird durch Estorff zum Münzsammler. Dadurch kommt eine Geschäftsverbindung mit der Grafschaft Hanau zustande. 1769 wird Meyer Amschel „Fürstlich Hessen-Hanauischer Hoffaktor“. Ein Hoffaktor war ein an einem höfischen Herrschaftszentrum bzw. Hof beschäftigter Kaufmann, der Waren, Heereslieferungen oder Kapital für den Herrscher beschaffte. Im ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich ist Meyer Amschel als Hoffaktor in Hessen durch Geldgeschäfte verstrickt. Als Erster Koalitionskrieg war die erste Auseinandersetzung eines großen Militärbündnisses, das zunächst aus Preußen, der Habsburgermonarchie und kleineren deutschen Staaten bestand, welche zwischen 1792 und 1797 zur Verteidigung der Monarchie gegen das revolutionäre Frankreich geführt wurde.

Bis 1794 wurde das Vermögen der Familie zwanzig Jahre lang auf 2.000 Gulden geschätzt. Danach stieg das Vermögen auf mehr als 15.000 Gulden.7

Amschel Meyer (1773 bis 1855), der älteste Sohn von Meyer Amschel Rothschild, begründet in Frankfurt die Stiftungstätigkeit der Familie. 1849 richtete er die „Freiherrlich Amschel Meyer von Rothschild’sche Stiftung für die armen Israeliten der Stadt Frankfurt am Main“ ein. Er blieb dem orthodoxen Judentum treu und missbilligte die jüdische Reformbewegung. Er bemühte sich um die Gleichstellung der Frankfurter Juden.1824 wurden die Juden als Israelitische Bürger den Christen privatrechtlich gleichgestellt. Erst 1864 hob Frankfurt als zweiter deutscher Staat nach alle Beschränkungen der Bürgerrechte auf und stellte die Juden den übrigen Bürgern gleich. 8

Die Rothschilds sind seit etwa 1500 eine der bekannteste jüdischen Familien in Deutschland.Schon frühzeitig entstanden Verschwörungstheorien, die es bis heute gibt. Danach wird eine jüdische freimaurerische oder Illuminaten9 – Verschwörung angenommen.

Ein NS-Propagandafilm war der Film „Die Rothschilds“ von 1940 unter der Regie von Erich Waschneck. Er ist ein antienglischer Propagandafilm. Inhalt: „Weil Kurfürst Wilhelm von Hessen-Kassel sich nicht dem Rheinbund angeschlossen hat, ist er vor Napoleon auf der Flucht. 1806 übergibt er in Frankfurt Obligationen aus seinem Soldatenhandel im Wert von 600.000 englischen Pfund, damit Rothschild diese in England in Sicherheit bringen möge.

Rothschild benutzt jedoch das anvertraute Geld, um sich ein Vermögen zu erwirtschaften. Dabei unterstützen ihn seine Söhne Nathan Rothschild in London und James Rothschild in Paris. Sie finanzieren mit dem Geld des Kurfürsten die Armee Wellingtons beim Krieg gegen Napoleon in Spanien.

Nathans geschicktester Schachzug gelingt schließlich 1815, als er das Gerücht verbreitet, Napoleon habe in der Schlacht bei Waterloo gesiegt, woraufhin die Aktienkurse in London abstürzen. Als die Wahrheit bekannt wird, hat er bereits zu Spottpreisen die Aktien erworben.

Nach einem Jahrzehnt haben die Rothschilds mit dem Geld des hessischen Kurfürsten ein Vermögen von elf Millionen Pfund erschwindelt. Zuletzt tut sich Nathan mit dem Kommissar des britischen Schatzamtes zusammen, um ganz Europa in seine Abhängigkeit zu bringen. Am Schluss erscheint ein Davidstern über der Karte Europas, indem sechs Finanzplätze als ‚Filialen Jerusalems‘ mit Linien verbunden werden.

Der Film schließt mit den Worten: ‚Als die Arbeit an diesem Filmwerk beendet war, verließen die letzten Nachkommen der Rothschilds Europa als Flüchtlinge. Der Kampf gegen ihre Helfershelfer in England, die britische Plutokratie, geht weiter.’“10 Ich konnte den Film während meiner Tätigkeit als Dokumentar 1979 im „Deutschen Institut für Filmkunde“ in Wiesbaden sehen und habe ihn als stark antisemitisch in Erinnerung. Die Rothschilds sind unsympathische Kapitalisten. Ihr Aufstieg gleicht einer Verschwörung. England ist das „perfide Albion“ .

Der Film ist für die Öffentlichkeit nicht freigegeben.

Wie der Name Rothschild nach Alzenau gekommen ist, ist hier nicht das Thema.

C. Schauer, April 2024

1Edgar Meyer, Alt Alzenau – neu entdeckt.Der Nationalsozialismus in Alzenau, sein Ende und die Zeit danach, Alzenau 1995, S. 44

2Meldekarte Daniel Rothschild

3Peter Körner, Skizzen zur Geschichte der Juden in Alzenau, Wasserlos und Hörstein, Alzenau. o.J., S. 24 f.

4Edgar Meyer, Alt Alzenau – neu entdeckt. Der Nationalsozialismus in Alzenau, sein Ende und die Zeit danach, Alzenau 1995, S. 44

5Walter Scharwies, Toleranz und Zusammenleben, aber auch unverständlicher Haß – Jüdische Kultusgemeinden in Alzenau/ Wasserlos und Hörstein, in ;Alzenauer Stadtbuch, Alzenau 2001, S.278

6Egon Caesar Conte Corti, Die Rothschilds. Des Hauses Aufstieg Blütezeit und Erbe, München 1971, S. 8

7Egon Caesar Conte Corti, Die Rothschilds, a.a.O., S. 16

9Illuminaten sind eine Geheimgesellschaft des 18. Jahrhunderts, die Aufklärung und sittliche Verbesserung des Menschen erstrebte

10Die Rothschilds (1940) – Wikipedia , Stand 22.4.2024

Die Hep-Unruhen und die Rothschilds 1819

Im August 1819 lösten die Karlsbader Ministerkonferenzen, die die demokratischen Bestrebungen stark bekämpften, eine stark judenfeindliche Bewegung aus. In vielen deutschen und österreichischen Städten kommt es zu Ausschreitungen gegen Juden. Vor den Häusern der Juden rotten sich erzürnte Volksmengen zusammen, schlagen die Fenster ein, brechen die Türen auf und rufen : „Hep, hep, Jude verreck!“1

Amschel Meyer Rothschild bangt mit seinen Brüdern um sein Leben. Einer der beiden Brüder äußert gegenüber einem österreichischen Legationssekretär am 6. August 1819: „ Ich gebe mir vorläufig die Ehre, untertänigst anzuzeigen, daß ich aus ganz zuverlässiger Quelle erfahren habe, daß das diesjährige jüdische Handelshaus Frankfurt gänzlich verlassen will; sie werden durch den kaiserlichen Finanzminister Graf Stadion die Erlaubnis ansuchen, sich in Wien etablieren zu dürfen.“2

Der 10. August bildet den Kulminationspunkt der judenfeindlichen Hep-Unruhen. Das Hep-Hep Geschrei dröhnt in der Frankfurter Judengasse. Juden treiben die schreienden Burschen aus ihrer Straße. Ein Ruhestörer wird verprügelt. In Frankfurt verbreitet sich das Gerücht, ein Christ sei im Ghetto verprügelt worden. Es bildet sich eine Volksmenge, die in die Judengasse strömt und und mit Steinwürfen die Häuser beschädigt. Auch das Haus Rothschild wird getroffen. Die Fensterscheiben werden zertrümmert, die Bewohner flüchten in die hinteren Gemächer.

An den Straßenecken steht am anderen Tage mit Großbuchstaben geschrieben: „Hep, hep, das Losungszeichen zur Vertreibung der abscheulichen Juden.“ Einige vermögende Juden verlassen daraufhin Frankfurt.3

Die Brüder Rothschild sind nahe daran, es zu tun. Der Frankfurter Senat greift ein und versichert den Juden seinen Schutz. Die Angst der Juden bleibt jedoch bestehen.

James Rothschild rät seinem Bruder in Frankfurt, sein Haus zu schließen und nach Paris zu kommen. Dem in Karlsbad wohnenden Bankier David Parish schreibt er: „Ich sollte dencken,es wäre würcklich nötig, dem Senate in Frankfurt durch Oesterreich oder Preußen Maßregeln an die Hand zu geben, Vorfälle wie jene vom 10. ds. kräftig zu unterdrücken und auf diese Weise das Eigentum eines jeden zu sichern. Sie werden wohl die Güte haben, seiner Durchlaucht, dem Fürsten Metternich, über dieses Sache zu sprechen und daß sie ihm das Interesse unserer Nation aufs wärmste ans Herz legen werden, bin ich von ihrer Freundschaft für mich zum voraus versichert,“4 Die Rothschilds bleiben in Frankfurt, bei Salomon und Carl hat sich ein Unbehagen herausgebildet, das nach anderen Orten Ausschau hält.

Einige jüdische Handelshäuser verlegen ihren Hauptsitz in die Nachbarstadt Offenbach. Der österreichische Gesandte Freiherr von Handel meldet an Metternich: „Das große reiche Haus soll nicht ganz abgeneigt sein, sich von hier zu entfernen. Es würde sich fragen, ob es unserem Interesse nicht angemessen wäre, demselben die Aussicht zu einer guten Aufnahme in den k.k. Staaten zu eröffnen und dieses Haus zur Uebersiedlung nach Wien zu bewegen. Rothschild verzehrt in seiner Wirtschaft allein 150000 Gulden und spendet den Armen jährlich 20000.“5

Die Frankfurter Bank M.A. Rothschild& Sühne wurde 1901 aufgelöst. Wilhelm Carl von Rothschild (1819 – 1901) war gestorben. Er war ein Enkel des Dynastie-Gründers Mayer Amschel Rothschild (1744 -1812).6

Die Rothschilds in England

Meyer Amschel Rothschild gelang es, in England Fuß zu fassen. Durch Zahlungen an den englischen Hof gelang es ihm, britische Textilien zu importieren. Sein talentierter Sohn Nathan Meyer war Textilkaufmann in Manchester. Nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo 1815 gewährte das führende nicht-jüdische Bankhaus Baring Londons gemeinsam mit den Rothschilds Frankreich Kredite. 1816 galt Nathan Rothschild als die führende Persönlichkeit an der Londoner Börse.

London wurde im 18. Jahrhundert ein Zentrum der sephardischen Juden. Die Aschkenasischen Juden immigrierten in London zur Zeit der Napoleonischen Kriege.7

C. Schauer, Mai 2024

1Corti, a.a.O., S. 77

2Ebd.

3Corti, a.a.O., S. 78

4Ebd.

5Corti, a.a.O.,S. 79

6Fritz Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberles, Margarete Schlüter (Hg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühem Neuzeit, Frankfurt am Main 2006, S. 132

7Stanley D. Chapman, Die Etablierung der Rothschilds im englischen Bankgewerbe, in: Die Rothschilds. Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie, Frankfurt am Main 1994, S. 71

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Gedenkfeier zur Reichspogromnacht am 26. November 2023 in Hörstein

Überwiegend im Zeichen des Nahostkrieges aktuell zwischen Israel und den Palästinensern stand die Gedenkfeier zur Reichspogromnacht am Sonntag, dem 26. November dieses Jahres , am Bella- und-Israel-Wahler Platz in Hörstein. Oded Zingher berichtete vom Pogrom der Hamas am 7. Oktober dieses Jahres, das er in Israel miterlebt hat. Die Farbe Rot im Fernsehen signalisiert in Israel Raketenalarm. Die AfD in Aschaffenburg mit 17 Prozent bei der Landtagswahl – dieses Faktum habe ihm wehgetan. Rabbiner Andrew Steinmann sah sich als Zeitzeuge eines Pogroms. Bürgermeister Stephan Noll forderte unter anderem „Sicherheit für Israel und eine Perspektive für die Palästinenser“.

Reichspogromnacht 2023 Alzenau 2

Gedenktafel Reichspogromnacht in Hörstein

Erinnert wurde an die 215 Jüdinnen und Juden, die einst in Alzenau lebten und in der Nazizeit vertrieben, deportiert und größtenteils ermordet wurden.

C. Schauer, 28.11.2023

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Bella und Israel Wahler

Bezugsartikel: „Zur Erinnerung an zwei jüdische Mitbürger -Hörstein hat jetzt seinen Bella- und Israel-Wahler-Platz“, in: Der Heimatbote vom 3.11.2020

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Israel Wahler

In dem Artikel hieß es unter anderem: „Mit neuem Gesicht präsentiert sich der Bereich ‚Bruchhausen/ Ecke Edelmannstraße‘ im Alzenauer Stadtteil Hörstein -. Grund genug, die Bürger aufzurufen, Vorschläge zur Benennung des Platzes einzureichen … Die Abstimmung der Bürgervertreter ergab: ‚Bella- und Israel -Wahler-Platz.‘ Auf dem neugestalteten Platz hat mittlerweile auch der ehemals in der Nähe der ‚Schönen Aussicht‘ befindliche Gedenkstein für Israel und Bella Wahler Platz gefunden. Die vorhandene Bronzeplatte auf diesem Gedenkstein hat folgende Inschrift: ‚Zum Gedenken an Israel Wahler geb. 7. August 1875 in Hörstein, Lehrer der israelitischen Elementar-Schule Hörstein und Bad Neustadt a.d. Saale und Bella Wahler geb. Adler, geb. 7. Mai 1878 in Gleicherwiesen in Thüringen – Opfer der Würzburger Deportation vom 25. April 1942’“ …..

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Gedenkstein für Bella und Israel

Wahler in Hörstein

Kommentar dazu erschienen im „Heimatboten“ vom 5.11.2020

Am 22. August 2016 starb in Frankfurt am Main Isaac Eddie Wahler, der Sohn von Israel Wahler, geboren 1918 in Frankfurt am Main, wohnhaft in Hörstein und dann in Bad Neustadt. Als 16-Jähriger musste er im Juni 1934 seine Eltern Bella und Israel Wahler verlassen. Er fand Asyl und lebte in den USA.

Im Januar 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete für das Internationale Militärgericht in Nürnberg als Mitglied der US-Staatsanwaltschaft. Im Sommer dieses Jahres fand er, damals Mitarbeiter des stellvertretenden amerikanischen Chefanklägers bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, Robert Kempner, in Oberursel wichtige Dokumente.

Isaac Wahler, dessen Eltern am 25. April 1942 über Würzburg nach Trawniki bei Lublin deportiert wurden, fand in dem von ihm 1947 in Oberursel gefundenen Dokumenten einiges Material über die Zeit kurz vor der Deportation seiner Eltern, Israel und Bella Wahler aus Bad Neustadt.

So teilte der Bürgermeister der Stadt Bad Neustadt an der Saale am 2.4.1942 dem Landrat von Bad Neustadt an der Saale unter dem Betreff „Evakuierung der Juden; hier Vollzugsmeldung über abgelieferte Schreibmaschinen, Photoapparate usw.“ unter anderem mit, dass Israel Wahler eine Schreibmaschine, Marke Mercedes abgegeben habe. Der Abtransport durfte den Juden erst zwei Tage vorher bekannt gegeben werden. Um das Brot vor dem Austrocknen zu bewahren, sollte den jüdischen Gemeinden empfohlen werden, das Brot für die Fünf-Tage-Reise erst am 21.April 1942 zu kaufen. Oberlehrer Wahler war Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Bad Neustadt. Damit war er Wortführer und Betreuer der Juden. Regen Kontakt hatte er zum Ernährungsamt B, das für die Zuteilung von Lebensmitteln für Direktverbraucher zuständig war. Israel Wahler machte in diesem Amt einen pessimistischen Eindruck, als er die Lebensmittelkarten für den Abtransport abholte. In einem Gespräch mit dem im Ernährungsamt B tätigen Beamten meinte er, daß er sich keinen Täuschungen hingeben würde und das Schlimmste befürchte. Der Beamte erwiderte ihm: „Herr Wahler! Das tut kein Deutscher! Daß er Menschen mordet! – Nein, das tut kein Deutscher! — Seien Sie versichert, Sie kommen alle wieder zurück und wir sehen uns in Neustadt wieder!“

Dieser Beamte soll auch vorher schon menschliche Regungen gehabt haben und ließ Oberlehrer Wahler manchmal für Juden verbotene Bezugsscheine zukommen, z.B. für Dosenmilch.

Bedauerlich ist, dass Isaac Wahler nicht in die Namensgebung des Platzes in Hörstein aufgenommen wurde.

Christian Schauer, Alzenau

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Juden in Hörstein, der Friedhof, die Familie Wahler

In Hörstein entstand eine jüdische Gemeinde Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Gemeinde endete 1940. 1789 wurden 17 „Schutzjuden“ registriert. 1880 wurde mit 137 Juden die höchste Zahl erreicht- das waren 11,9 % der Bevölkerung. Die Gemeinde gehörte zum Bezirksrabbinat Aschaffenburg. Sie war orthodox.

Die Synagoge von Hörstein entstand nach 1820, es gab eine Mikwe, eine Elementarschule und seit etwa 1812 einen Friedhof. Vorher diente Hanau als Begräbnisstätte der Juden.

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Judenfriedhof Hörstein

Für diesen Friedhof wurde im März 1890 eine Friedhofsordnung für die israelischen Cultus-Gemeinden Hörstein und Alzenau verfasst. Darin heißt es unter anderem:

§ 1

Der israelitische Friedhof in Hörstein ist der Aufsicht der Ortspolizei Hörstein unterstellt

§ 2

Die Gräber dürfen nur von dem hierfür von den beteiligten Gemeinden angestellten Totengräber gemacht werden.

§ 3

Die Beerdigungen werden von den Mitgliedern der betreffenden Gemeinden vorgenommen.

……………..

§ 8

Jede Beschädigung oder Beschmutzung der aufgestellten Monumente, Grabsteine sowie der Gräber selbst, ebenso das Betreten frischer Gräber, sowie jede Verunreinigung des Friedhofes und seines Zuganges ist verboten.

…………….

§ 11

Zur Nachtzeit ist der Besuch des Friedhofes verboten

§ 12

Das Mitnehmen von Hunden auf dem Friedhof ist verboten.

Die Bestimmung in § 8 konnte nicht immer gewährleistet werden. Für das Jahr 1935 wurde in einem Polizeibericht registriert, dass „neuerlich 100 Grabsteine umgestürzt“ wurden.

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Grabstein Isaak Wahler Foto Oded Zingher

Der im Kommentar unten angeführte Isaak Wahler liegt auf dem Judenfriedhof Hörstein begraben. Er starb am 15.2.1912. Auf dem Grabstein heißt es:

1 Hier ist begraben

2 der teure Mann, der treu

3 seine Arbeit im Dienste Gottes verrichtete,

der Gelehrte

4 Izchak, der Sohn des Herrn Kolonimus Wahler,

5 der die Kinder unserer Gemeinde Hörstein

6 auf den rechten Weg führte

und sie unterrichtete in den Geboten Gottes

7 und seiner Lehre. Er ging in seine Welt

am Donnerstag, 27. Shvat

8 und wurde begraben und ein Nachruf

wurde gesprochen

in großer Ehre am Abend des hl. Shabat, 28.

9 Shvat 672 n.kl.Z.

10 Seine Ehrfurcht hatte Vorrang vor seiner Klugheit.

11 Die Gemeinde hörte seine Gebete.

12 Gottes Weißheit pflanzte er den Kindern ein.

13 Er blies das Schofar, um die Juden aufzuwecken.

14 Seine Seele sei eingebunden

in das Bündel des Lebens.

Isaak Wahler, Lehrer, Hörstein

5574 – 5672 1

Insgesamt befinden sich auf dem Friedhof 246 Grabsteine. Der Schofar wird auch Hallposaune genannt und ist ein altes Musikinstrument aus dem vorderen Orient. Es wird aus dem Horn eines Widders gefertigt. Der Segenswunsch „Seine/Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens!“ ist oft der einzige hebräische Teil in einer sonst in der Landessprache abgefassten Grabinschrift.

Oded Zhinger, Ehre Deine Eltern. Der jüdische Friedhof in Hörstein – Alzenauer Beiträge zur Heimatgeschichte Band 2 , Alzenau 2004, S. 214

Leserbrief zu: „Namensgebung wird zur spannenden Angelegenheit“, in Main-Echo vom 13.10.2020, erschienen gekürzt in: Main-Echo online vom 16.10.2020, in Main-Echo Printausgabe vom 30.10.2020, in: “ Der Heimatbote“ FB-Seite vom 19.10.2020

Lehrer der jüdischen Gemeinde in Hörstein war seit 1894 Israel Wahler und damit ein renommiertes Mitglied des Ortes. Er unterrichtete damals vierzehn Kinder an der Jüdischen Volksschule. Sein neuer Wohnort war seit 1931 Bad Neustadt an der Saale, sein Vorgänger war sein Vater. Fast vierzig Jahre lang war bis 1894 Isaak Wahler Lehrer in Hörstein. Er starb 1912 im Alter von 98 Jahren.

Am 22. August 2016 starb in Frankfurt am Main Isaac Eddie Wahler, der Sohn von Israel Wahler, geboren 1918 in Frankfurt am Main, wohnhaft in Hörstein und dann in Bad Neustadt. Als 16-Jähriger musste er im Juni 1934 seine Eltern Bella und Israel Wahler verlassen. Er fand Asyl und lebte in den USA.

Im Januar 1947 kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete für das Internationale Militärgericht in Nürnberg als Mitglied der US-Staatsanwaltschaft. Im Sommer dieses Jahres fand er, damals Mitarbeiter des stellvertretenden amerikanischen Chefanklägers bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, Robert Kempner, in Oberursel wichtige Dokumente. Es handelte sich um das vollständige Aktenmaterial zu den Judendeportationen aus dem Bereich der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), Staatspolizeileitstelle Nürnberg-Fürth, Außendienststelle Würzburg. Für Isaac Wahler hatten die Würzburger Gestapo-Akten eine hohe persönliche Bedeutung. In den Dokumenten fand er die Unterlagen über die Deportation seiner damals noch in Bad Neustadt lebenden Eltern am 25. April 1942 aus Würzburg. Dazu die von nahen Angehörigen und Freunden der Familie.

In einem Gespräch anlässlich des 66. Jahrestages der Wannsee-Konferenz am 17. Januar 2008 im Haus der Wannsee-Konferenz berichtete Isaac Wahler auch über die Vergangenheit in Hörstein. Auf die Frage, ob Antisemitismus 1931 in Hörstein zu spüren war, antwortete Isaac Wahler: „Also in Hörstein bei Aschaffenburg war überhaupt, also nach meiner Erinnerung, als junger Kerl, überhaupt kein Antisemitismus. Die Leute haben sich vollkommen integriert in dem Sinne, dass die Religion zweite Sache war. Sie respektierten die Juden und die Juden respektierten die christliche Bevölkerung. Mein Vater war sehr aktiv, er war in zwei Gesangvereinen, der Dirigent von zwei Gesangvereinen im Ort.“ Dass der Ort nicht antisemitismusfrei geblieben ist, ist bekannt. Manches an Israel Wahler hört sich heute nicht sehr vorbildlich an. So berichtet sein Sohn in dem Interview: „Mein Vater war während des Ersten Weltkrieges enthusiastischer Deutscher und ihm hatte die ganze Weltkriegssache nicht irgendwie angegriffen, sondern zugesagt.“

Es spricht deshalb vieles dafür, den Sohn vorzuziehen und mit der Benennung „Isaac-Wahler Platz“ an die jüdische Geschichte Hörsteins zu erinnern.

Christian Schauer, Alzenau

1  Oded Zhinger, Ehre Deine Eltern. Der jüdische Friedhof in Hörstein – Alzenauer Beiträge zur Heimatgeschichte Band 2 , Alzenau 2004, S. 214

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Synagoge Alzenau – Verkauf

Schreiben des „Verbandes Bayerischer Israelitischer Gemeinden“ an den Landrat Alzenau Unterfranken von 16. Mai 19391

Betreff: Erlös für den Verkauf der Synagoge in Alzenau

Wir gestatten uns von folgendem Sachverhalt Kenntnis zu geben:

Am 21. Februar 1939 wurde die Synagoge in Alzenau an den Metzgermeister August Pflaum zum Preis von RM 2500.– verkauft. In der Verkaufsurkunde ist der Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden als empfangsberechtigt für den Kaufpreis bezeichnet. Wir haben den Herrn Bürgermeister in Alzenau wiederholt ersucht, uns den Kaufpreis zu überweisen. Diesem Ersuchen hat der Herr Bürgermeister bisher nicht entsprochen. Wir wenden uns deshalb an den Landrat in Alzenau mit der Bitte, den Herrn Bürgermeister in Alzenau anzuweisen, den uns gemäss der notariellen Urkunden zustehenden Kaufpreis für die Synagoge in Alzenau unserem Verband alsbald zu übersenden.

Dr. Alfred Israel Neumeyer

Der Gauwirtschaftsberater der NSDAP, Gau Mainfranken, Dr. Vogel, stimmte dem Ankauf der Synagoge Alzenau durch August Pflaum am 25.August 1939 zu.


Gutachten über den Wert der Synagoge in Alzenau.

Das Synagogengebäude hat eine überbaute Fläche von rd. 127,00 qm. Der Bau ist nicht unterkellert. Die Umfassungsmauern des vorderen Gebäudeteiles mit dem Versammlungsraum sind bis unter Dach auf 7,00 m Länge aus rauhem Bruchsteinmauerwerk und die des restlichen Gebäudteiles, in dem eine kleine Wohnung untergebracht ist, im Erdgeschoss aus Bruchsteinmauerwerk und im Obergeschoss aus ausgemauertem Riegelfachwerk hergestellt. Das Dach ist mit Bieberschwanzziegeln eingedeckt. Der Bau befindet sich in ruinösem Zustande. Was an diesem noch gut ist, sind die Umfassungswände und das Dach.

Wert des Gebäudes:

Bebaute Fläche 8,0 x 7,0 +8,85 x 8,0 = rd. 127,00 qm.

Gebäudehöhe:

2,70 + 2,55 + 0,50 = 5,75 m.

Umbauter Raum: 127 x 5,75 = rd. 720 cbm-

Preis für 1 cbm umbauten Raum durchschnittlich 8,00 M.

Kosten 720 x 8,00 = 5700 M.

Gebäudealter ca 100 Jahre. Voraussichtliche Leesdauer des Baues ca 150 Jahre.

Normale Wertverminderung 57 x 56 = 3200 M.

Mithin bleiben 5700 – 3200 = 2900 M.

Heutiger Wert 2900 x 1,4 = rd. 4000 R.M.

Wie bereits erwähnt, ist das einzig brauchbare an dem Gebäude das Umfassungsmauerwerk und das Dach. Für die Instandsetzung des Baues sind vorsichtig geschätzt mindestens 1500 R.M. Aufzuwenden. Mit diesem Aufwand ist nur die Wiederherstellung des alten Zustandes möglich. Der vereinbarte Kaufpreis von 2500 R.M. kann als Verkehrswert und als annehmbar bezeichnet werden.

Alzenau, Mainfr. Den 7. Juni 1939

Fäth

Kreisbaumeister


Der Kreisbaumeister Fäth vertrat in einem Gutachten vom 7. Juni 1939 die Einschätzung, dass „der vereinbarte Kaufpreis von 2500 RM als … annehmbar bezeichnet werden“ kann.

Der Kaufvertrag vom 21. Februar 1939 ist abgeschlossen zwischen Daniel-Israel Rothschild und August Pflaum, handelnd für die Israelitische Kultusgemeinde Alzenau und August Pflaum, Metzgermeister in Alzenau, Hanauerstr. 8.

C. Schauer,  November 2023

1Landratsamt Alzenau LRA 4842

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Geschichte der Synagoge in Alzenau – die Reichspogromnacht 1938 in Alzenau und Hörstein

Im 17./18. Jahrhundert besuchten die Alzenauer Juden die Synagoge in Wasserlos. Um 1820 beschloss die Alzenauer jüdische Gemeinde den Bau einer neuen Synagoge.Eine ältere Synagoge hatte sich als zu klein erwiesen. Man erwarb ein Grundstück an der heutigen Alfred-Delp-Straße. Auf diesem wurde 1825/26 eine Synagoge erbaut. Zudem entstanden eine Mikwe und eine Lehrerwohnung. 1826 wurde die Synagoge eingeweiht. Die Wasserloser Juden waren wahrscheinlich finanziell beteiligt.

Die Synagoge befand sich in der Nähe der Metzgerei Pflaum, früher Metzgerei Hein. Mit dieser hatte die Synagoge des öfteren Streit. 1898 wurde die Synagoge sogar einmal mit einem Bretterverschlag versehen. Es ging um den Viehtrieb auf dem Synagogengelände. Ein Vergleich brachte eine Lösung: der Metzgerei Hein wurde gestattet, Vieh über das Gelände zu treiben, ohne den Eingang zur Synagoge mit seinem Wagen zu verstellen. Am Sabbat und anderen jüdischen Feiertagen musste Hein hinnehmen, keinen Mist aus seinem Anwesen zu transportieren. Die Jauche auf dem Weg zur Synagoge fehlte aber in den Folgejahren nach wie vor nicht. 1901 wurde die Synagoge umfangreich renoviert, 1903 entstanden Klappsitze für Männer. Die Männer bekamen in der Synagoge das Parterre zugewiesen, Frauen und Mädchen den ersten Stock. 1911 wurde der Weg zur Synagoge gepflastert. Eine Besonderheit gab es noch an der Außenseite der Synagoge. Ein Stein war dort angebracht. Nach der Hochzeit musste der Bräutigam ein Glas gegen diesen werfen. Erinnert werden sollte an die Zerstörung des Tempels in Jerusalem.1 Das Wasser für die Mikwe wurde bis 1913 dem Entenbach entnommen. Danach wurde ab 1913 das Wasser von einer Quelle aus dem Anwesen des Gasthofes Köbert zur Synagoge geleitet.

1926 war die Hundertjahrfeier der Synagoge, ein denkwürdiges Ereignis, das überregional Aufsehen erregteIn der “Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung” hieß es am 3. 12. 1926 dazu:” … Seit vielen Jahrhunderten ist im Kahlgrunde auch eine jüdische Bevölkerung ansässig, die nachweislich im 17. Jahrhundert in dem Alzenau benachbarten Wasserlos 30, in Alzenau 12 Familien zählte. Heute hat sich das Zahlverhältnis der jüdischen Bevölkerung der beiden Orte, welche eine Kultusgemeinde bilden, umgekehrt. Während im 17. und 18. Jahrhundert die Juden von Alzenau allsabbatlich zur Synagoge nach Wasserlos wanderten, besuchen heute die jüdischen Familien von Wasserlos die Synagoge zu Alzenau, deren Grundsteinlegung und Bau urkundlich auf das Jahr 1826 festgestellt ist.

Das 100 jährige Bestehen ihres Gotteshauses gab der Gemeinde Alzenau-Wasserlos Anlass zu einer Gedenkfeier, in deren Rahmen die gleichzeitige Feier der 25jährigen Wirksamkeit ihres Lehrers in der Gemeinde mit eingefügt war. Was dieser Doppelfeier die charakteristische Note und für den fremden Teilnehmer den eigenartige Reiz verlieh, war die Beteiligung der gesamten christlichen Bevölkerung des Marktfleckens an dieser jüdischen Feier. Ein seltener Fall in unserem engeren Vaterlande, dass solch friedliche Harmonie zwischen den verschiedenen Glaubensbekenntnissen eines kleinen Ortes besteht, das auch in den politisch unruhigsten Zeiten des vergangenen Jahrzehnts niemals durch den leisesten Misston getrübt war” …Lehrer war damals Benzion Wechsler (geb. 1874 in Schwabach), der seit 1901 die Ämter des Lehrers, Kantors und Schächters bis zu seinem Ruhestand (1938) inne hatte.

Die Reichspogromnacht in Alzenau – Zeugnisse der Vernehmungsniederschriften der Landpolizei Unterfranken, der Spruchkammer Alzenau und in die USA emigrierter ehemaliger Alzenauer

Die Ereignisse der Reichspogromnacht vom 9./10. Novenber 1938 sollen hier ausführlich geschildert werden. Auch die Aussagen der Beschuldigten des Pogroms sollen in Teilen widergegeben werden.

Grundlage der Beschuldigung Alzenauer Bürgerinnen und Bürger zur Reichspogromnacht bildete ein Schreiben einer 1938 etwa 18 jährigen jungen jüdischen Frau aus Alzenau, die in die USA emigriert war.2 Das Schreiben von M.B. lag der Spruchkammer Alzenau vor. Danach folgt der Brief eines nach New York ausgewandereten Alzenauers. Die Orthografie ist nicht immer hundertprozentig richtig.

„Sehr geehrter Herr R., … Diese Woche jährt sich der 10. November und da will ich so weit ich mich noch an alles erinnere und Ihnen alles schreiben wie … es an diesem schrecklichen Tage in Alzenau vor sich ging, denn ich vielleicht mehr als jeder überlebende Jude aus Alzenau, kann Ihnen alles so schreiben wie es war. Ich habe eine ganze Liste von Nazies und ich hoffe dass Sie alle diese Gangster und Verbrecher ihren Lohn geben können oder wenigstens veranlassen können. Hier ist es so wie ich es erlebt habe. Als Zeuge und Victim mache ich die folgenden Angaben.

Am 10.November als mein Vater in die Synagoge kam, die gleich neben unserem Haus war, war dieselbe teilweise demoliert und der Almemor (erhöhter Platz mit Toralesepult) sowie auch der Ohraun hakodesch (Toraschrein) angehackt mit einem Beil etc. Ich sah es selbst. Dieses geschah in der Nacht vom 9. auf 10.November 1938. Während des Tages zogen Horden von Nazis vor unserem Hause und der Synagoge auf. Wie man sagte hat P. und E. W. Spitzel beherbergt. …

J. R., Sohn des früheren Ortsdieners H. R., stand Schmiere während Horden von Nazies in die Synagoge eindrangen und bei F. H. der in der Wohnung oben in der Synagoge wohnte. In der Synagoge wurde alles kurz und klein geschlagen auch bei F. H., bei dem sie sogar die Betten aufschlissen und den Herd zum Fenster heraus wurfen. Die Sefer Toras ( das sind die Torarollen) verrissen sie auf der Strasse und in den Wegen zwischen P. und uns war ein richtiges Papiermeer von zerrissenen Sefer Toras und Gebetbüchern. Besonders hervor taten sich bei der Aktion folgende Personen. Die beiden Gebrüder F.. die Gebrüder G.. L. G. von der damaligen Hitler Jugend und dessen Vater. K., der damalige Ortsgruppenleiter, K. E. und dessen Sohn W., Dr. B., Lehrer B., bei dem ich mehrere Jahre in die Schule ging und der schon von Anfang an gegen die jüdischen Kinder discriminiert hat. J. und H. H. (genannt Kirchgickel) wohnhaft im Hause von Sattler N.. SS Mann G. (wohnhaft auf der Oberschur.)

Ganz besonders tat sich hervor der lange K. der auf der Else wohnt, ein junger Mann der heute ungefähr 28 Jahre alt ist. Der Vorname ist mir unbekannt, aber es wird Ihnen jeder sagen können wer er ist. Derselbe hat bei uns öfters die Fensterscheiben eingeschmissen vor dem 10. Nov. 1938. Und viele andere, die heute vielleicht keine Nazis mehr sein wollen.

Mittlerweile hatten die Banden alles bei uns im Hause kurz und klein geschlagen stahlen alles was noch ein bisschen Wert hatte und alles das Wert hatte darunter auch einige tausend Mark. Zwei Brilliantenringe und sonst noch wertvoller Schmuck alles Erbstücke von meinen Grosseltern beiderseits sowie Silber und vieles andere wurde gestohlen. Auf dem Heimwege zurück nach Hörstein gerieten die beiden G. in Streit wegen der Teilung des gestohlenen Gutes, wie wir hörten. Wie ich in der Zwischenzeit erfuhr hat die Frau von A.G. aus Hörstein die Diamantringe. (Beide Ringe hatten soviel ich weiß Monogramme und Daten). Nachts um 2 Uhr kamen die Banden nochmals und da meine Eltern nicht fähig waren zu laufen noch zu rühren musste ich mit acht verwegenen Nazis mit in unser Haus in dem weder Türe noch Fenster waren, die Lichtleitung war durchschnitten und es war alles dunkel. Sie machten nochmals Haussuchung und meine Tante K. H. war halb bewusstlos auf der Treppe gelegen, von wo sie die Verbrecher hinunter wurfen.

Am Abend als wir, das heißt meine Eltern und ich nicht mehr wussten wohin flüchteten wir uns auf die Polizei wo wir von dem Kommissar und den Gendarm so viel ich mich erinnern kann war es R., der wegen seiner Judenhasse bekannt war, warf uns hinaus. Auf dem Heimwege durch die breite Wiese wurde auf uns geschossen. Am nächsten Tage wurde mein Vater verhaftet für 2 Wochen, von diesen Lumpen weil er angeblich gesagt haben sollte es ist gestohlen. Er musste es in der Zeitung zurücknehmen lassen.

Meine Mutter bekam einen Herzanfall, wir wussten nicht wohin, da alles kaputt geschlagen war, so tat ich meine Mutter in das Hospital. Da wurde sie von den Katholischen Schwestern auf Anlass der Behörde hinausgeworfen. Wäre es nicht um N. gewesen bei denen wir ein paar Nächte Obdach fanden (meine Mutter und ich) so hätten wir nicht gewusst wohin.

Herr R. können diese Lumpen wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Raub und Plünderung angezeigt werden? Wenn ja dann sind Sie von mir bevollmächtigt dieses zu tun. Mein Onkel Herr M. S. schrieb mir heute, dass Gendarm A. ganz genau weiß wer bei uns alles geplündert hat und nach dem 10. November noch mehrere male eingebrochen hat. Auch dass der Sohn von R. M. der auch einmal Ortsredner war ein Meisterstück am 10. November geleistet hat.

Lieber Herr R., ich hoffe recht bald von Ihnen zu hören und ich hoffe dass ich Ihnen weiter wenn möglich behilflich sein kann diese Verbrecher zur Sühne zu bringen was ja wohl nie wahr werden wird.“

Das Schreiben von M.B. war datiert vom 6. November 1946, Adresse: 35-28 99 Street Corons, L.I., N.Y.

S. O., ausgewanderter Jude aus Alzenau, sandte am 25.April 1948 aus New York an Herrn E. Pf., Ermittler der Spruchkammer, folgendes Schreiben:

„In Beantwortung Ihrer Zuschrift vom 5, Febr. 1948 betr.: Judenpogrom in Alzenau teile ich ihnen folgendes mit: Die judenfeindliche Hetze in Alzenau wurde in der Hauptsache von folgend Nazis angestiftet & geschuert: 1. K. E. 2. H. E. 3. Lehrer B. 4. E. W. 5. ein gewissser Sch. von Offenbach 6. M. Schwiegersohn von ehemaligem Buergermeister P. 7. J. P. Angestellter der Brauerei Stein

Alle oben genannten sind die geistigen Urheber und verantwortlich fuer die judenfeindlichen Aktionen in Alzenau. Es ist dabei von ganz geringer Wichtigkeit wer eigentlich die „Heldentaten“ vollbracht hat. In den meisten Faellen waren diese Burschen die entweder der S.A. oder Hitlerjugend angehoerten und taten was ihnen von den oben genannten aufgetragen wurde, nachdem diese die Aktionen vorher geplant hatten. Ganz besonders hervorgetan bei der Ausfuehrung haben sich die Brueder F., E. jr., K. R. Sohn von Metzger J. R., G. Hanauer Str. Angestellter der Creditkasse, A. R., H. mit Beinverletzung wohnhaft auf der Elze.

Welcher gerade diese oder jene Fensterscheiben eingeworfen, oder Juden auf der Strasse misshandelt oder bei der Synagogenaktion sich besonders hervorgetan hat ist in den meisten Faellen heute nicht mehr festzustellen und auch gar nicht wesentlich. Die Juden sind natürlich nicht auf der Strasse stehen geblieben sondern haben sich verkriechen muessen und sind daher am wenigsten in der Lage ganz genau zu sagen dieser oder jener hat dieses oder jenes getan. Der groesste Teil der Alzenauer Bevölkerung hat sich gefuerchtet und fuerchtet sich auch heute noch gegen die Angeklagten als Zeugen aufzutreten, obwohl jeder an so einem kleinen Ort genau weiss & wusste wer die Uebeltaeter sind. Dass die Angeklagten heute sich alle als unschuldig hinstellen ist ein weiterer Beweis dafuer wie sie den Angaben der Partei auch heute noch Folge leisten. Schon im Jahre 1943 waren von der Partei aus alle Plaene genau ausgearbeitet im Falle einer Niederlage der Nazis, wenn alles schief gehen sollte. Dabei ist auch schon festgelegt worden was jeder aussagen soll wenn er einmal dieserhalb vor Gericht kommen sollte. Dafuer sprechen auch die Aussagen der verschiedenen Angeklagten, welche in ihrem Inhalt alle ziemlich gleich sind und vorher genau einstudiert waren. Mit Juden als Zeugen hat man natuerlich nicht mehr gerechnet, da man glaubte, dass man diese bis dahin alle umgebracht habe.

Ich habe versucht mit diesen Zeilen ein ungefaehres Bild zu geben, bin jedoch nicht in der Lage zu beschwoeren welcher von den Nazis Gegenstaende aus der Synagoge gestohlen oder Herrn J. H. Geld abgenommen hat, da wie bereits erwaehnt ich nicht dabei gestanden habe und ausserdem selbst verhaftet worden bin.“ …

Die Landpolizei Unterfranken verfasste im Dezember 1948 eine zusammenfassende Darstellung der Vernehmungen.

Landpolizei Unterfranken Aschaffenburg, den 3.12.48

Kriminalaußenstelle

Aschaffenburg

..,.

Betr.: Judenpogrom 1938 in Alzenau ….

An die Staatsanwaltschaft für den Landgerichtsbezirk Aschaffenburg

Im Auftrage der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg vom 24.9.48 waren auf Grund der bisherigen Unterlagen weitere Ermittlungen im Judenpogrom Alzenau zu tätigen.

Bei einer am 5.10.48 stattgefundenen Rücksprache mit dem Öffentlichen Kläger der Spruchkammer Alzenau, Herrn N., und dessen Ermittler Pf. wurde mir erklärt, daß sämtliche Verfahren der vermutlich an der Judenaktion beteiligten Personen von der Spruchkammer Alzenau abgeschlossen sind und daß in keinem Falle eine Verurteilung wegen Beteiligung am Alzenauer Pogrom hätte erfolgen können. Gerade die Alzenauer Judenaktion sei sehr schlecht zu ermitteln gewesen, da verhältnismäßig sehr wenig Belastungsmaterial eingegangen sei und zumal auch die in Amerika lebenden ehemaligen Alzenauer Juden trotz schriftlicher Aufforderung keine Antwort gegeben hätten. Nur der Jude S. O. habe geantwortet, aber auch hier seien konkrete Angaben nicht gamacht worden. (Siehe beiliegender Brief des O.). Auch die M. B., geb. H., früher in Alzenau wohnhaft, habe außer dem bekannten Schreiben vom Juli 1947 trotz Aufforderung keine näheren Ausführungen mehr gemacht.

Bei der Spruchkammer waren 2 Protokoll-Abschriften (K.R. und L. M., beide aus Alzenau) vorhanden, die zu den Akten genommen und ausgewertet wurden.

Außerdem wurden die bei der Spruchkammer Alzenau greifbaren Spruchkammerakte der bereits früher ermittelten Beschuldigten A.R., P.K., J.F., A.F., W.E., K.E. und H.E., alle aus Alzenau, erholt und dem Akt beigenommen. Die Akten J.R., K.K., K. R. aus Alzenau sollen sich beim Berufungssenat befinden.

Nach Auskunft der Militärregierung in Alzenau sollen sich dort keine Unterlagen mehr befinden, die Sachdienliches zur Judenaktion Alzenau zum Gegenstand haben.

Wie aus beiliegenden Vernehmungsniederschriften ersichtlich, wurden eine Anzahl der im Schreiben von M. B. genannten Personen, sowie Personen aus den Nachbarhäusern der Synagoge und der Judenanwesen vernommen, wobei aber soviel wie nichts Positives erreichte wurde. Auch bei der Anzahl mündlich befragter Personen musste festgestellt werden, daß heutzutage niemand mehr etwas Belastendes aussagen will und sich der Befragte damit entschuldigt, daß die Tat schon so lange zurückliege und daher die Vorgänge nicht mehr erinnerlich seien. Das vielfach in Alzenau kursierende Gerücht, daß die Aktion hauptsächlich von den älteren Schülern unter Mitwirkung ihrer Lehrkräfte , insbesonder des Gewerbelehrers B. ausgeführt worden sei, dafür konnten keine Beweise geliefert werden. Ich verweise auf die Angaben des Bürgermeisters A. und des Gewerbelehrers A.

Auf Grund der durchgeführten Ermittlungen dürften sich nach beiliegenden Zeugen- und Beschuldigtenaussagen, außer den bereits früher ermittelten, sich noch folgende Personen an der Aktion beteiligt, bzw. Sachen aus Judenbesitze gestohlen haben:

Erwachsene: B. A, geb. R., wohnhaft in Wasserlos

K.E., geb. R., z.Zt. wohnhaft in Langenselbold (Schwester der B. A.)

Jugendliche: G.K. aus Alzenau, K.F. aus Alzenau (gefallen) S.E. aus Alzenau G.N. aus Alzenau H.B. aus Alzenau H.H. aus Alzenau.

Bemerkt wird noch, daß nach den gemachten Wahrnehmungen der Inhalt des belastenden Schreibens der M. B. in ganz Alzenau so bekannt und geradezu in der Zwischenzeit populär wurde, daß sich jeder Betroffene entsprechend einstellen konnte und schon vermutlich aus diesem Grunde jede Anschuldigung strikte abgestritten wird. Es wird auch von vielen Seiten die Ansicht vertreten , daß die damals 14-jährige M. B. den Inhalt des Schreibens nicht aus eigener Kenntnis geschrieben hat, sondern daß die Angaben vermutlich von Alzenauer Bekannten ihr mitgeteilt wurden. Die M. B. gibt in ihren Schreiben an, daß sie von den Gebrüdern G. (V. und A. G. aus Hörstein) mißhandelt worden sei, was von den Gebrüdern G. entschieden bestritten wird. Wie aus dem beiliegenden Spruchkammerprotokoll des R.K. ersichtlich ist, wurde R. wegen Mißhandlung der M.B. von den Zeugen M. und E. H. belastet. Zeugen wollen diese Belastung persönlich durch die M. B. kurz nach der Judenaktion in Alzenau erfahren haben.Von der Spruchkammer daher wurde diese Belastung nicht als Tatsache angenommen. Es erscheint m.E. erforderlich, daß die Zeugin M. B. aus Corons (USA) über ihre gemachten Angaben und Wahrnehmungen eidlich vernommen wird.

Die Beschuldigte E.K. aus Langenselbold macht den Eindruck einer geistig beschränkten Person und sie will ihre zugegebene Tat unter dem Druck der damaligen inzwischen verstorbenen Arbeitgeberin, Frau Apotheker H. aus Alzenau ausgeführt haben. Frau H. war als fanatische Nazistin bekannt und es kann angenommen werden, daß sie die K. tatsächlich hierzu veranlaßt hat. Auch der Zeuge E.R. aus Alzenau bestätigt, daß die K. ihm diese Tatsache kurz nach der Aktion auf Befragen erzählt hätte. Die E.K. wurde in Alzenau allgemein als „die närrische E.“ bezeichnet. Nach Mitteilung der Spruchkammer Alzenau wurde die E.K. durch das Gesundheitsamt Hanau inzwischen als geistig beschränkt erklärt und daher der § 51 StGB zugebilligt.

Die Tatzeit der Judenaktion steht nicht einwandfrei fest. Im allgemeinen wurden die Aktionen in der Nacht vom 8. auf den 9.11.1938 in anderen Orten durchgeführt. Nach Angaben der Zeugen Bürgermeister A. Alzenau und nach dem Schreiben der M. B. dürfte die Aktion in Alzenau einen Tag später, also in der Nacht vom 9. auf den 10.11.1938 stattgefunden haben.

Die Ermittlungen ergaben, daß in Alzenau eine Synagoge und 22 Judenhäuser vorhanden waren. Bei der Aktion wurde die Synagoge weder gesprengt noch angezündet, sondern es wurde in dieser die Inneneinrichtung vollständig demoliert. Außerdem sollen nur in 2-3 Judenhäusern die Inneneinrichtungen sehr stark zerstört worden sein, während die übrigen Judenhäuser nur ganz gering beschädigt worden sein sollten. Diebstähle und Plünderungen sollen ausgeführt worden sein. Der Gesamtschaden kann von hier nicht geschätzt werden.

Als Haupttäter der Judenaktion in Alzenau werden immer wieder auswärtige, unbekannte SS- oder SA-Leute genannt. Auch der angeblich beteilgte K.R. aus Alzenau gab bei seiner Vernehmung vor der Spruchkammer Alzenau an, daß er 10 -12 Mann in schwarzer Uniform am Tatort gesehen habe und daß dies angeblich die Gruppe „Neuner“ von Aschaffenburg gewesen sein soll. Diese Gruppe habe früher öfters in der Wirtschaft Sittinger in Alzenau getagt.Eine SS-Gruppe„Neuner“ aus Aschaffenburg konnte trotz eingeholter Erkundigungen in Aschaffenburg nicht festgestellt werden. Der SS-Mann K.A. von Alzenau gibt in seiner Vernehmung zu, daß in der Wirtschaft Sittinger öfters SS-Leute aus Aschaffenburg , darunter auch der SS-Sturmführer J. verkehrt sei, aber eine Gruppe „Neuner“ seien nicht bekannt. Die Einheit der SS-Leute von Alzenau und Umgebung sei als der Sturm „Neun“ bezeichnet worden. Führer des Sturms „Neun“ sei ein gewisser B.R. aus Aschaffenburg gewesen.

Festgestellt wurde, daß Obersturmführer B.R. aus Aschaffenburg sich bis vor kurzer Zeit im Interniertenlager befand. Nach Mitteilung der Eltern des R. befindet B.R. nicht mehr in Aschaffenburg, sondern er soll sich bei seiner Familie in Dorfmark, Kr. Fallingpostel bei Hannover, Großer Hof Nr. 1 befinden. Die Ehefrau heißt C.R..

Weitere Beschuldigte konnten nicht ermittelt werden. Die Ermittlungen werden noch fortgesetzt und im Erfolgsfalle Bericht erstattet. …

Die hier nachfolgend geschilderten Vernehmungen geben den mainstream der Aussagen wider. Die Vernommenen bestreiten die Anschuldigungen der in die USA ausgewanderten jüdischen jungen Frau. Das waren in den mir vorliegenden Dokumenten 16 Einzelpersonen oder Familien. Eine andere Vernehmung befasste sich in erster Linie mit dem Feiertagsverkauf eines Alzenauer Juden.

Vernehmungsniederschrift

Vorgeladen und zur Wahrheitsangabe ermahnt, gibt der verheiratete Kraftfahrer R. K. auf Vorhalt folgendes an:

  1. Zur Person

R., Vorname K.J., geb. 16.6.1905 in Alzenau, AG., selbst., Sohn der Fabrikarbeiterseheleute E. und M. R., geb. B. , verh. Kraftfahrer, röm. kath., deutscher Staatsangehöriger, angeblich nicht vorbestraft, wohn

haft in Alzenau, Waldstrasse 20

Wirtschaftliche Verhältnisse: Eigenes Einfamilienhaus, Barvermögen 800.- . Wöchentlicher Verdienst von 50 – 60.- RM. Hat für Frau und 4 Kinder im Alter von 19 – 5 Jahren zu sorgen.

2. Zur Sache

Mit meinen 4 jüngeren Geschwistern bin ich in Alzenau im Elternhaus in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Nach der Schulentlassung habe ich als Bauarbeiter in Hanau/ Frankfurt gearbeitet. Ich gehörte dann als Mitglied der KPD – Rote Hilfe, Sitz Nürnberg an und später dem freien Gewerkschaftsbund bis zur Auflösung 1933. Desgleichen im Arbeiterverein Alzenau. 1939 oder 40 wurde ich gegen meinen Willen – auf Veranlassung des damaligen Geschäftsführers der Cellulosefabrik Alzenau M. K. – in die NSDAP aufgenommen,der ich dann bis Kriegsende angehörte. Irgend ein Amt innerhalb der Partei habe ich zu keinem Zeitpunkt bekleidet. Zur Wehrmacht wurde ich wegen Untauglichkeit – schwere Unfälle – nicht einberufen.

In der Nacht vom 8. auf 9. 11. 1938, das heisst an dem Abend des 8.11. war ich mit noch mehreren Alzenauern in der Wirtschaft Neumann. Ich verliess dann so etwa um 21 oder 22 Uhr, die Zeit kann ich heute nicht mehr genau angeben, das Lokal und begab mich auf den Heimweg. Ich hörte plötzlich eine laute Schreierei und einen Mordskrawall und ging auch drauf zu. Ich sah sehr viele Leute die Strasse (Entengasse) entlang laufen. Ich stand dann am Hofeingang des J. H. und sah Männer im Hofe rumlaufen- ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagten, ob die Leute SS Uniform trugen oder nicht. Jedenfalls war unter ihnen kein einziger Alzenauer. Ich stand ungefähr 10 Minuten dort und ging dann weiter nach Hause.

Auf dem Weg zum Haus des H. habe ich den Alzenauer O. D. getroffen, der mir mit 2 Judenfrauen im Arm begegnete.Ich sagte zu D.: „Ich hab gedacht die Nazi, die SA würden die Juden verschlagen und dabei nehmen sie sie in Schutz.“ Ich hörte dann noch den D. zu den Frauen sagen: „Beruhigt euch nur, es passiert euch nichts.“ Dieser Wortwechsel geschah nur im Vorbeigehen. Ausser dem D. habe ich keinen einzigen Alzenauer gesehen und die Männer im Hofe des H. waren Fremde und mir Unbekannte.

Wie bereits erwähnt, ging ich, nachdem ich etwa 10 Minuten am Hofeingang des J. H. gestanden hatte, meinen Weg weiter nach Hause.

Dass ich die 14 jährige M. H. misshandelt haben soll, dass ich J. H. misshandelt haben soll, die Barschaft abgenommen und Stoffe entwendet haben soll, stelle ich ganz entschieden in Abrede. Ich habe niemanden angerührt und auch nicht das geringste entwendet, mehr kann ich nicht angeben. Sollte mir jemand etwas anderes beweisen können, so bitte ich, mir diese Person gegenüberzustellen.

Ich ging am 9.11.38 wie immer zur Arbeit in die Cellulosefabrik und während ich über Mittag daheim war, kam der Gendarm D. und der damalige Bürgermeister A. Sie sagten, dass sie bei mir Haussuchung halten wollten wegen der von mir bei H. entwendeten Stoffe. Da ich mir keiner Schuld bewusst war, war ich ob dieser Beschuldigung sehr erstaunt. Die Haussuchung fand dann statt, die selbstverständlich ergebnislos verlief.

Sonst habe ich nichts gesehen und kann auch weiter keine Angaben machen.

Ein Durchschlag der Niederschrift wurde mir von Hptw. V. vorgelesen. Ich habe gleichzeitig die Urschrift mitgelesen und eigenhändig verbessert. Ihr Inhalt ist in allen Teilen richtig und wird von mir anerkannt.

Geschlossen: Alzenau, den 5.1.1947 …

Am gleichen Tag sagt A. R., geb. 12.1.1912 in Alzenau, Sohn der Gärtnerseheleute J. und J. R. Zur Sache aus: „Dass ich als Täter in der Sache J. H., seine Frau und Diebstahl von Stoffen dieser Personen genannt worden bin, ist mir völlig unbegreiflich. Ich weiß von dieser ganzen Sache nicht und stelle diese Beschuldigungen ganz entschieden in Abrede.“

Ebenfalls am 5.1.1947 wurde A. K. F., geb. 28.5.1917 in Alzenau, vernommen. Er war Sohn der Händlereheleute J. und L. F.. Zur Sache äußerte er sich folgendermaßen: „Mir ist es unbegreiflich, dass ich beschuldigt werde, Gegenstände aus der Synagoge – während der Judenaktion 1938 – entwendet zu haben. Ich kann hierzu nur folgendes sagen. Ich hörte, dass die Synagoge kaputt geschlagen sei und ging am Nachmitttag des 9.11.38 von daheim durch den Hauckwald – über den Kahlsteg – Entengasse – Kirchgasse und kam am heutigen Wirtschaftsamt wieder auf die Hauptstrasse. Aus Neugierde wollte ich mir einmal die Synagoge ansehen. Ich konnte aber nicht bis an die Synagoge herankommen, da sie durch einheimische SA bereits abgesperrt war. Namen kann ich keine angeben, da, ehrlich gesagt, halb Alzenau dort herumgelaufen ist. Ich hielt mich nicht mehr lange dort auf, sondern ging wieder nach Hause.

Ich möchte noch bemerken, dass uns unser Vater sehr oft ermahnte, uns nie an einer Sache gegen die Juden zu beteiligen. Mein Vater stand nämlich als Altmaterialhändler noch immer mit Juden in Geschäftsverbindung.

Sonst kann ich keine weiteren Aussagen machen und von denen zur damaligen Zeit im Umlauf gewesenen Gerüchten, habe ich keine mehr in Erinnerung. …“

Am 12.1.1947 wurde H.E. vernommen, geb. am 17. Juli 1902 in Stadtlauringen Krs. Hofheim Ufr., Sohn des verstorb. Gendarmerie – Oberkom. J. E. und seiner Ehefrau M geb. Pf.. … Am 1.1.32 trat ich der NSDAP als Mitglied bei. „Im Jahre 34 wurde ich Mitglied von NSV, DAF, Luftschutz, 1943 a.usserdem noch von der KOV.“

Zur Sache führte er aus: „In der fraglichen Nacht vom 8. auf 9. Nov 38 weilte ich zu Hause bei meiner Familie. Dass in dieser Nacht verschiedentlich Ausfälle gegen Juden vorkamen, erfuhr ich erst am nächsten Morgen auf dem hiesigen Postamt, wo kleinere Gruppen von Menschen zusammenstanden, die sich über die Vorfälle , die in der letzten Nacht passiert seien, unterhielten. Bei dieser Gelegenheit wurde mir auch bekannt, dass in Hanau, Frankfurt, Aschaffenburg und in Schöllkrippen die Synagogen brennen würden. Daraufhin fuhr ich mit meiner Frau nach Hanau, weil ich dort einen Zweigbetrieb hatte. Unweit des Betriebes befindet sich die Hanauer Synagoge, die ich von weitem brennen sah. Ich hatte keine Zeit, mir die ganze Sache selbst anzusehen und kümmerte mich deshalb auch nicht weiter darum. Gegen 16:00 als ich nach Hause gefahren war, erzählte mir meine damals noch 8 jährige Tochter, dass die grossen Buben nach Beendigung der Schule in die Alzenauer Synagoge gegangen seien und dort alles herausgeworfen hätten.

Dass ich mit E. zusammen H. H. misshandelt oder geschlagen hätte, entspricht nicht den Tatsachen; ich habe noch nicht einmal sein Haus betreten. …“

Am 30.1.1947 wurde K.E. vernommen, geb. am 27.4.1899 in Schöllkrippen, Sohn der Kaufmannsleute L. und A. E.. „Zur Sache H.H. kann ich nur sagen, dass das alles nicht der Wahrheit entspricht und vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Ich befand mich damals mit meiner Frau beim Maitanz im Saale der Gastwirtschaft Ludorf. Das genaue Datum kann ich heute nicht mehr angeben. Plötzlich kamen Leute in den Saal und erzählten , dass bei H. H. ein Mordsauflauf sei. Wenn ich mich richtig entsinnen kann, kam damals der Ortsgruppenleiter K. und verständigte die Gendarmerie. Soviel ich weisss war Gendarm D. ebenfalls in dem Saal. Ich begab mich dann auf die Strasse und sah, dass dort ein Mordsklamauk war. Viele Menschen – meist Jugendliche- standen unmittelbar vor dem Wohnhaus des H. Ob ich H. E. gesehen habe, kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, jedenfalls habe ich keinen Wortwechsel mit ihm geführt. Ich habe auch nicht mit E. gemeinsam den H. misshandelt oder fortgeschafft. Ich sagte nur zu den umherstehenden Personen , dass sie nicht so’n Lärm veranstalten sollten, wenn hier etwas nicht in Ordnung wäre, dann wäre einzig und allein die Gendarmerie zuständig. …

Ich war damals in Aschaffenburg bei der DAF beschäftigt, dadurch vom SA Dienst befreit und in Alzenau nicht mehr zuständig. Nicht in der geringsten Weise nahm ich an irgendeiner Aktion gegen die Juden teil. Mir selbst war auch vor dem 8.11.38 nichts von einer derartigen Aktion bekannt. Am 9.11., als ich von Aschaffenburg zurückfuhr, erfuhr ich bereits in Kahl, dass in der Alzenauer Synagoge die Fenster eingeworfen worden seien.. Am gleichen Abend, gleich nach dem Essen, begab ich mich in die Wirtschaft E.H.. Es kam ein Alzenauer Mann – den Namen weiß ich nicht mehr – und erzählte, dass dem Juden D. H. von der SA 7 – 8000 RM gestohlen worden seien. Ich war sehr empört darüber, dass in der SA solche Lumpen stecken und stehlen. Auf telefonischem Wege verständigte ich sofort die Gendarmerie, worauf gleich 2 Beamte eintrafen. Sie forderten mich auf mitzukommen, worauf wir in die Wohnung des H. in die Entengasse gingen. Die Polizei klopfte und H. gewährte uns Einlass. H. machte nun der Polizei gegenüber seine Angaben. Ich persönlich fragte H., ob er die SA-Männer nicht erkannt hätte, worauf er und auch seine Frau sowie die Tochter erklärten, dass es alle Fremde gewesen seien, denn Alzenauer hätten sie ja erkannt. Wir gingen dann auch ins Geschäft und schauten in der Geldkassette nach dem verschwundenen Geld , aber auch dort hatten wir keinen Erfolg. Als wir dann wieder auf dem Rückweg zur Wohnung des H. Auf die Straße kamen, sagte einer der vielen Umstehenden: „Schaut doch einmal nach, ob der Jude das Geld nicht in der Tasche hat!“ Die Polizei durchsuchte dann die Taschen des H. und fand in der Weste 2 Brieftaschen , worin sich der Betrag von 7 – 8000 RM befand. Daraufhin entschuldigte sich H. und sagte, dass er froh sei, das Geld wieder gefunden zu haben. Ich verlangte dann von der Gendarmerie, dass H. die gegen die SA gemachten Äusserungen in der Zeitung zurücknehmen möchte, was auch ohne weiteres geschah. Ich ging dann wieder in die Wirtschaft H. und später nach Hause. Sonst kann ich keine Angaben machen. Diese meine Angaben habe ich gelesen und erkenne sie als richtig an.“

Bei den hier nachfolgend vorliegenden Vernehmungs-Niederschriften sticht eine Person hervor, die die Anschuldigungen nicht abstreitet. Eine andere Person gibt die Verwicklung ihres Sohnes zu, eine Frau bestätigt Diebstähle von zweien ihrer Söhne.

Landpolizei Unterfranken L., den 11.Oktober 1948 Krim.- Aussenstelle Aschaffenburg Vernehmungs-Niederschrift.

Auf das Dienstzimmer der Schutzpolizei Langenselbold vorgeladen, mit dem Gegenstand der Vernehmung vertraut gemacht, zur Wahrheit ermahnt gibt die beschuldigte Frau K. E., geb. R. aus L. folgendes an:

Zur Person:

K., Vorn: E. geb. R., geb. 18.11.1919 zu Wasserlos, Tochter der Taglöhnersleute G. und M. R., geb. St., verh. mit P. K., deutsch, angeblich 14 Tage Gefängnis wegen Diebstahls vorbestraft, erhielt angeblich Bewährungsfrist.

Wirtschaftliche Verhältnisse: Führt den Haushalt ihres Schwiegervaters, der eine kleine Landwirtschaft besitzt. Der Ehemann ist in der elterlichen Landwirtschaft beschäftigt und hat kein eigenes Einkommen. Die Familie K. lebt in geringen wirtschaftlichen Verhältnissen.

Zur Sache:

Meine Mutter ist im Jahre 1935 verstorben. Meine Eltern lebten getrennt, d.h. sie waren geschieden, mein Vater lebt jetzt noch in Frankfurt. Ich wuchs zuhause in sehr ärmlichen Verhältnissen auf, ich habe noch 6 Geschwister, wovon 2 in Wasserlos wohnhaft. Ich habe in Wasserlos 6 Jahre die Volksschule besucht, ich musste ein Jahr und zwar das erste nachsitzen, weil ich als Kind in der Schule schlecht mitgekommen bin. Ich besuchte auch 3 Jahre lang die Fortbildungsschule in Wasserlos. Meine Schulzeugnisse waren immer schlecht.

Ich habe mich am 14.2.(?)48 verehelicht. Ich kam mit 18 Jahren im Jahre 1938 nach Alzenau, wo ich bei Apotheker H. in Stellung trat. Dort war ich bis 1942. Dann ging ich nach Hamburg in Stellung bis 1944. Ab 1944 war ich in Muna Wildflecken beschäftigt und wurde im Dezember 1944 als Luftwaffenhelferin eingezogen.

Über meine Beteiligung bei der Judenaktion in Alzenau im Jahr 38 wurde ich schon verschiedentlich von der Spruchkammer Alzenau vernommen, ich habe hierbei die reine Wahrheit gesagt und diese meine Angaben halte ich auch heute noch vollkommen aufrecht, weil sie so richtig sind. Ich habe gesagt, was ich noch von der ganzen Sache weiss. Ich schütze niemand, sondern habe gesagt, was ich gesehen habe.

Ich gebe auch zu, dass ich mich selbst bei der Judenaktion beteiligt habe, aber ich habe dies nicht aus freien Stücken gemacht, sondern ich wurde damals von Frau H. hierzu aufgefordert und sozusagen gezwungen.

Die Sache war folgendermassen: An dem Vormittag, als die Synagoge zerstört wurde, kam K. K. in das Büro der H. und sagte, dass sie sich auch beteiligen solle. Frau H. sagte, sie könne nicht hin, sie würde aber jemand anders hinschicken. Dieses Gespräch zwischen der H. und dem K. habe ich heimlich hinter der Tür abgehört. Kurz darauf kam dann Frau H. zu mir und sagte, ich solle auch an die Synagoge gehen und solle dort etwas kaputt schlagen, was ich aber ablehnte. Ich ging in mein Zimmer, aber Frau H. lief mir nach und drängte mich dazu, sodass ich mich in mein Zimmer einschloss. Frau H. drückte daraufhin sogar die Türe , die nur mit einem einfachen Kloben versperrt war, auf und holte mich heraus. Dabei hatte sie die Hundepeitsche in der Hand, sie wollte mich auch damit schlagen, aber ich sprang die Stiege hinunter. Hierbei gab sie mir noch einen Stoss. Ich lief in meiner Angst zur Synagoge und habe mich dann auch an der Zerstörung beteiligt. Bei meiner Ankunft war die Synagogentüre schon auf und es wurde gerade eine Bank von den Jungens raus getragen. Sie stellten die Bank vor die Türe des Pflaum. Ich habe dann dem einen F.- es waren die beiden jungen F. dabei- die Axt abgenommen und habe damit ein Stück von der Bank abgeschlagen. Ich habe nicht die ganze Bank kaputt geschlagen. In diesem Moment kam der alte P. zu mir und sagte, hör auf es hat keinen Wert, geh nach Hause. Ich habe auch sofort aufgehört , habe das Beil einem Jungen, den ich aber nicht kannte, gegeben und bin dann zum Uhrmacher R. E. gegangen, dem ich erklärte, dass ich von der Frau H. zu der Handlung gezwungen wurde, ich habe bei ihm geweint und habe mich über die H. bei ihm beschwert. Ich bin öfters zu R. gekommen und habe mein Leid geklagt, insbesondere meine Behandlung durch Frau H. . Frau H. war eine sehr böse, falsche Frau und eine grosse Nazistin.

Während meiner Anwesenheit an der Synagoge haben sich folgende Personen an der Zerstörung beteiligt: Die beiden Gebrüder F., der junge G., der Sohn des Maurers Sch.. Es waren noch eine ganze Anzahl Jugendlicher an der Stelle, die ich aber mit dem besten Willen nicht angeben kann. Ich kann mit dem besten Willen nicht mehr sagen, ob sich auch erwachsene Personen an der Zerstörung der Synagoge beteiligten, es ist mir jedenfalls niemand in Erinnerung.

Ich kann mich erinnern, dass der K. mit dem Fahrrad an der Synagoge an dem Vormitttag gestanden hat, ich hörte dass er hierbei mit lauter Stimme sagte, so ähnlich wie: „Macht alles kaputt ihr Jungens, nur dran.“ Ich kann das nicht mehr beeiden, ob es K. war, aber der Stimme nach glaube ich bestimmt, dass er es war.

In den Abendstunden der Pogromnacht habe ich den K. wieder mit den Fahrrad durch die Stadt fahren sehen, hier hörte ich wie er zu den Leuten, die in der Hanauerstrasse am Judenhaus H.3 Fenster einwarfen, gesagt hat:“Hört auf.“ Daraufhin hörten auch die Leute auf. K. fuhr weiter. Ich kann nicht sagen, wer die Fenster eingeworfen hat, es waren viele Leute dort gestanden, ich kann aber niemand mehr nennen.

A.B. Ich habe bestimmt nur ein Stück von der Bank kaputt geschlagen, mehr nicht. Diese Bank wurde nach mir von den Gebrüdern F., G. und Sch. vollends kaputt geschlagen. Es war dies eine Betbank. Ich habe nur einmal in die Synagoge hinein geschaut, drin war ich nicht und ich habe sonst auch nichts zerstört.

Im Jahre 1945, als ich zurückkam, sagte mir Sch. B. (der alte) ich hätte die Betten auch aufgeschlitzt an der Synagoge. Er sagte auch, ich hätte einen Herd zum Fenster hinuntergeworfen, dies ist alles gelogen und stimmt nicht. Wie könnte ich einen Herd hinauswerfen!

Ich habe das Beil einem der jungen F. weggenommen, wer es war, kann ich nicht mehr sagen. Wenn ich auch nicht lange damals in Alzenau war, so habe ich doch diese F. und G. und auch Sch. schon von länger gekannt. Die beiden F. kannte ich insbesonder von der Kirmes in Wasserlos, dort waren sie immer mit einem Konfektstand.

Ich bestreite entschieden, mit dem Beil die Synagogentüre aufgeschlagen zu haben, die Tür war schon auf, als ich hinkam.

Ich habe meine Angaben freiwillig und ohne Zwang gemacht und erkenne sie durch meine Unterschrift an: …

Am 15.10. 1948 wurde K. G. 55 Jahre alt, wohnhaft in Alzenau, Spessartstraße, Ohne Nr., vernommen: „Ich bin PG. seit 1932 und auch seit dieser Zeit Amtswalter der DAF in Alzenau. Ich habe diesen Posten regelmäßig begleitet, während die praktische Tätigkeit von einem durch die Partei eingesetzten Geschäftsführer erledigt wurde. Innerhalb der Partei begleitete ich keinen Posten. Wegen meiner Tätigkeit als Amtswalter wurde ich von Mai 1945 bis Juni 47 interniert.Ich war niemals SS-Mann.Wenn die Frau M. B. angibt, daß ich mich bei der Judenaktion 1938 auch hervorgetan und beteiligt haben soll, so muß ich dies ganz entschieden bestreiten, denn ich hatte damals mit der Aktion nicht das Geringste zu tun. Ich bin seit 1927 bei der Firma Brown Boveri & Co. als kaufmänn. Angestellter beschäftigt gewesen und fuhr täglich von Großauheim mit dem Fahrrad zurück zu meiner Familie in Alzenau. Ich habe auch am 8. und 9.11.38 wie mir von der Firma schriftlich bestätigt wurde, gearbeitet und kann also nicht an der Aktion in Alzenau beteiligt gewesen sein. (Nach vorgezeigter Bestätigung der F. Brown Boveri & Co richtig). ….

Wenn mit vorgehalten wird, daß auch mein Sohn N. bei der Judenaktion an der Synagoge beteiligt gewesen sein soll, so kann ich nur sagen, daß ich davon bis zum heutigen Tage nicht weiß und ich es auch nicht glauben kann, daß er sich daran beteiligt hat, denn er wurde hierzu niemals von seinen Eltern erzogen oder angehalten. Wie gesagt, ich selbst war an diesem Tage nicht zu Hause und mein Sohn war damals täglich bis nachmittags in der Schule in Aschaffenburg. Ob er auf dem Heimweg an der Synagoge war, weiß ich nicht, die Möglichkeit besteht, weil er dort vorbeigehen mußte. Wenn mein Sohn angibt, daß er einige Bänke umgeworfen hat, so wird dies wohl richtig sein. Ich kann jedenfalls selbst zu der ganzen Angelegenheit nichts sagen. Ich erwähne nochmals , daß ich mit der ganzen Judenaktion nicht das geringste zu tun habe. Es ist mir unerklärlich, wie Frau B. mich als Beteiligten benennen kann. Ich habe im Jahre 1938 nicht auf der sog. Oberschur, sondern in der Hanauerstr. Hs.Nr. 18 gewohnt. D.h. bis anfangs 1938 habe ich in der Gunkelsrainstraße (Ortsteil Oberschur) gewohnt und bin dann Mitte 1938 in die Hanauerstr. verzogen.“ …

Im November 1948 wurde die Hausfrau M. H. geb. K. , geb. 8.8.94 zu Alzenau, wohnhaft daselbst, Entengasse, Hs. Nr. 7, vernommen.

„Zur Zeit des Judenpogroms im Jahr 1938 waren meine 4 Söhne 12, 10, 8 und 16 Jahre alt. Es wurden an dem betreffenden Nachmittag hier in Alzenau durch die Schuljugend die Inneneinrichtungsgegenstände zerstört. Von unserer Wohnung aus hörte man das Gejohle der Schuljugend und einmal ein Poltern, welches daher kam, daß man aus der Wohnung des Juden F. H. allerhand Hausrat herunterwarf.An diesem Nachmittag, das Datum weiß ich heute nicht mehr, ging ich auch einmal an dem Hause J. H. (im Hinterhof stand die Synagoge) vorbei. Trotz der umstehenden Volksmenge konnte ich sehen, daß sich die Jugend im Synagogenhof zu schaffen machte. Als ich auf der Straße an der Synagoge vorbeiging, sah ich eben, wie der SA-Führer E. von hier daherkam. Ob er sich an der Synagoge zu schaffen gemacht hat, weiß ich nicht.

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich damals fortging, ob ich nach meinen Jungen sehen wollte oder ob ich etwas zu besorgen hatte. Mir ist nicht mehr in Erinnerung, ob meine Kinder zu dieser Zeit zu Hause waren. Ich will deshalb nicht bestreiten, daß sie auch im Hof der Synagoge waren.

Als mein Mann gegen 16.00 Ihr von der Arbeit kam, verbot er unseren Buben unter Androhung von Schlägen, sich an der Synagoge sehen zu lassen oder etwas von Judeneigentum heimzubringen.

Am nächsten Tage kam der F. H. zu uns und behauptete, meine Jungen hätten seine Wäscheleine gestohlen. Mein Mann ließ sie darauf zu sich kommen und fragte, wer etwas von den Judensachen mitgenommen habe. Mein Sohn B. H. (damals 8 Jahre alt) brachte damals einen Knäuel Schnur aus der Tasche, während sein Bruder H.H. ½ Kärtchen weißes Stopfgarn beibrachte. Mein Mann gab dem F.H. die Sachen zurück.Sonstige Gegenstände haben die beiden nicht nach Hause gebracht. Meine Angaben entsprechen der Wahrheit.“ …..

Wie in dem Schreiben der Landpolizei Unterfranken vom Dezember 1948 dargestellt, waren die Anschuldigungen der ehemaligen Alzenauerin, die damals in den USA lebte, den beschuldigten Alzenauern bekannt. Jeder konnte sich auf seine Aussagen lange einstellen. Da auch der eine oder andere Fehler auftauchte – ein SS-Mann war in einer anderen NS-Organisation und damals wohnte er schon woanders als angegeben – fiel es offensichtlich nicht schwer, die Exaktheit der Anschuldigungen anzuzweifeln. Nicht glaubwürdig ist allerdings, dass nur eine Person die Anschuldigungen bestätigte und zwei Personen kleinere Verfehlungen ihrer Kinder zugaben. Eine derartige Aktion kann von der Planung her nicht von einer geistig beschränkten Person in die Wege geleitet worden sein. Es gilt das, was ein nach New York ausgewanderter jüdischer Bürger aus Alzenau aussagte, indem er eine gewisse Unschärfe zugestand: „Die Juden sind natürlich nicht auf der Strasse stehen geblieben, sondern haben sich verkriechen muessen und sind daher am wenigsten in der Lage, ganz genau zu sagen, dieser oder jener hat dieses oder jenes getan.“ Fotografien gab es zu den Beschuldigungen nicht wie in anderen Städten. Daß sich nicht wenige Alzenauer im Sinne der Nationalsozialisten betätigten, ist aber augenscheinlich. Der vielfach gebrauchte Ausdruck „Judenaktion“4 in den Ermittlungsakten zeugt nicht von großer Distanz zu diesem Pogrom, sondern wirkt eher beschönigend. Eine Verurteilung aufgrund der Aussagen der jüdischen ehemaligen Alzenauerin gab es nicht. Der geistig beschränkten Alzenauerin, die sich selbst als Täterin bekannte, wurde § 51 StGB (Unzurechnungsfähigkeit) zugebilligt. Das passt in das Gesamtbild – wer etwas zugibt, kann nicht ganz dicht sein.

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Was passierte mit den zerstörten oder ramponierten sakralen Gegenständen? Der Aschaffenburger Konservator Schohe transportierte am 12. November 1938 jüdisches Archivgut aus Alzenau und Schöllkrippen mit einem Lastwagen ab. Darunter waren auch Thorarollen. Die aus aus der Synagoge Alzenau stammenden Reste einer Thorarolle wurden im Bezirksamt verwahrt. Nach der Besichtigung durch Gestapo und Sicherheitsdienst wurden sie vernichtet. 5

In einem Monatsbericht vom 28.11.1938 der Gendarmeriestation Alzenau heißt es zum Pogrom: “In politischer Hinsicht ist im Monat November außer den am 8./9./10 ds. Monats vorgenommenen Judenaktionen nichts wesentliches vorgekommen. Bei diesen Judenaktionen wurden nicht nur Sachen und Gegenstände demoliert, sondern es wurde dabei, wie sich nachträglich herausgestellt hat, auch gestohlen. Die Diebe konnten bis jetzt nicht ermittelt und die gestohlenen Sachen auch nicht beigebracht werden. Ein Teil der Bevölkerung kann nicht verstehen, warum einerseits auf Grund des Vierjahresplanes auf die Erhaltung der Volkswerte Bedacht genommen werden soll und man andererseits durch die Judenaktionen eine Unmenge von Werten hat vernichten lassen. Man kann Äußerungen hören, die dahin laufen, daß es besser gewesen wäre , wenn die Juden in Deutschland an Stelle der Demolierung von Sachen eine zweite Milliarde als Kontribution auferlegt worden wäre.”6

Im Januar 1939 wurde mit einem Bauern aus Alzenau über den Verkauf der Synagoge zum Preis von 2.500 RM verhandelt.7 Elf Juden lebten im April 1942 noch in Alzenau.Fünf von ihnen wurden am 23.April nach Würzburg verbracht und von dort zwei Tage später nach Izbica bei Lublin deportiert. Die sechs anderen wurden Mitte August nach Aschaffenburg überstellt. Sie kamen am 10.September 1942 in das Ghetto Theresienstadt.8

Im Laufe der 1960er-Jahre wurde das Gebäude abgebrochen, hieß es früher. Nach neueren Forschungen geschah der Synagogenabbruch 1972. An dem Standort der Synagoge befinden sich heute ein Hof und eine Garage.9 1988 wurde am Ort der ehemaligen Synagoge ein Gedenkstein errichtet. Eine Fotografie der Synagoge konnte nicht gefunden werden.

Hörsteiner Synagoge und Reichspogromnacht

Die Synagoge in Hörstein entstand nach 1824. 1887 gab sich die jüdische Kultusgemeinde in Hörstein eine Synagogenordnung.10 Die Hörsteiner Synagoge wurde 1909 renoviert.

In Hörstein richtete sich der NS-Terror nach 1933 auch gegen die Hörsteiner Synagoge. 1936 wurden wiederholt die Fenster der Synagoge eingeworfen. Anfang Juni 1938 wurden die meisten Silberschmuckstücke der Torarollen gestohlen. Im September 1938 steigerte sich der Terror – die Fenster der Synagoge wurden wieder eingeworfen- auf den Straßen hörte man „Schneidet den Juden die Hälse ab!“.

Da in der Synagoge kein Gottesdienst mehr abgehalten werden konnte, brachten die in Hörstein noch lebenden Juden eine Torarolle aus der Synagoge in ein jüdische Wohnung, um hier Gottesdienste zu feiern. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge geschändet, blieb jedoch als Gebäude insgesamt erhalten. Die Inneneinrichtung und die Ritualien wurden völlig vernichtet. Danach wurde sie von der Ortsverwaltung beschlagnahmt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude der Synagoge zunächst als Feuerwehrgerätehaus genutzt. 1982 wurde die ehemalige Synagoge abgebrochen. Die Gebotstafeln vom Giebel der Synagoge landeten im Heimatmuseum.

1Vgl.: Edgar Meyer, Alt Alzenau – neu entdeckt. Von Von der Jahrhundertwende bis zu den „Goldenen Zwanziger Jahre“, Alzenau o.J., S. 48

2Staatsarchiv Würzburg, Staatsanwaltschaft Aschaffenburg, Ermittlungsakten 196 – Alle folgenden Dokumente sind diesen Ermittlungsakten entnommen.

3Richtiger Name ist H. Der Name ist im Original falsch geschrieben.

4Der Begriff „Judenaktion“ war ein offizieller der NS-Propganda -siehe Peter Körner, „Jetzt ist es mit Dir aus…“ 10.November 1938 in Aschaffenburg: Opfer und Täter Ahndung und Erinnerung, Aschaffenburg 2019, S. 16

5Vgl. Helmut Winter, Die Reichskristallnacht im Bezirk Alzenau, In „Unser Kahlgrund 1989“, S. 201

6Ebd.

7Vgl. Baruch Ophir/ Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 – 1945 – Geschichte und Zerstörung, München – Wien 1979, S. 253

8Ebd, S. 254

10 Peter Körner, Skizzen zur Geschichte der Juden in Alzenau, Wasserlos und Hörstein, Alzenau o.J, S. 11 f.
synagoge-hoerstein-neu

Synagoge Hörstein

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Diem Resümee für Alzenau

Mitte August 2017 wurde bekannt, dass der Antrag auf Umbenennung der Carl-Diem-Straße erneut abgelehnt wurde.

Die Alzenauer Grünen erinnerten in ihrem Antrag vom März 2017 an Reinhard Appel (1927- 2011). Der ehemalige Chefredakteur des ZDF war Augenzeuge des Diem – Auftrittes. Am 18. März 1945 hatte Diem bei einer Rede auf dem Berliner Reichssportfeld Hitlerjungen und Volkssturm auf- gefordert, bis zum Tod weiterzukämpfen. Dabei verglich er das letzte Aufgebot an Vaterlandsverteidigern mit den Spartanern und zitierte ein Lied mit der Eingangszeile:“Schön ist der Tod…“  Reinhard Appels Vorwurf: Diem habe seine Autorität genutzt, »um Jugendliche wie ihn damals in den Kugelhagel zu schicken.« Die Atmosphäre im Kuppelsaal sei vergleichbar gewesen mit der im Sportpalast bei der Goebbels-Rede zum ‚totalen Krieg‘. Für die Fraktionssprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen Claudia Neumann war klar: »Carl Diem kann in der heutigen Zeit nicht mehr als Vorbild gesehen werden.“

Der Antrag der Grünen wurde nicht zur Abstimmung gestellt. Das verhinderte ein Geschäftsordnungsantrag, den Bürgermeister Alexander Legler (CSU) begründete. Argumentiert wurde, dass eine Entscheidung des Stadtrates aus 2003 (für die Beibehaltung des Namens) nicht umgestoßen werden dürfe, da sich seither kein neuer Sachverhalt ergeben habe. Ein neuer Sachverhalt wäre nach Auffassung Leglers, wenn es neue historische Erkenntnisse gäbe.
Der Alzenauer Stadtrat ließ 2003 die Aussage protokollieren, dass die Einschätzung zur Person von Carl Diem »nicht eindeutig« sei. Daran habe sich nichts geändert. 2003 hatte die Deutsch-Ausländische Gesellschaft Alzenau zum zweiten Mal beantragt, die Straße umzubenennen. Beim ersten Mal 1995/1996 war es der Ortsverband der Grünen.

Carl- Diem- Straße 2017

Michael Müller vom Main-Echo würdigte in seinem Kommentar die vorbildliche Erinnerungskultur Alzenaus und sah es als vorbildlich an, dass Hetzern kein Raum gelassen wurde. Er fuhr fort:“Doch Carl Diem war zweifellos einer dieser Hetzer, einer dieser Hass- und Zwietrachtsäer. Wie muss man ticken, wenn man in einem verlorenen Krieg Mitte März 1945 Jugendliche zu einem ‚finalen Opfergang‘ aufruft? Zu dem Diem selbst offenbar nicht bereit war. Er machte noch schön seine Nachkriegskarriere, während viele seiner jungen Zuhörer nicht mehr am Leben waren.
Diesen Mann sollte man nicht ehren – nicht einmal »nur« mit einer nach ihm benannten Straße. Das Ganze passt nicht zusammen, es passt nicht zu Alzenau.
Es mag ja verständlich sein, wenn Anlieger keine Umbenennung wollen. Dazu sei gesagt: In der Nachbarkommune Freigericht sind zigfach Straßen umbenannt worden, um Mehrfachnennungen in den Ortsteilen zu vermeiden. Dieser Vorgang ging viel geräuschloser und unspektakulärer vonstatten, als die Kritiker (die ihren Straßennamen behalten wollten) zuvor gedacht hätten. Es war letztlich kein Problem. Natürlich wäre es möglich gewesen, einen »neuen Sachverhalt« gelten zu lassen – der neue Wohnkomplex an der Carl-Diem-Straße ist ein solcher. Ich halte es in diesem Punkt mit den Alzenauer Grünen: Eine historische Chance ist vertan.“

Dass es so kommen würde, deutete sich bereits Anfang Juli 2017 an. Bürgermeister Alexander Legler (CSU) überraschte mit der Ankündigung, das Thema in der Augustsitzung des Stadtrates behandeln zu wollen – allerdings gänzlich anders, als es die Grünen erwartet hätten: Legler will beantragen, dass der grüne Antrag nicht behandelt wird. Der Grund: Alzenaus Stadtrat habe bereits über die Abschaffung des Namens entschieden – und die Abschaffung abgelehnt. Dieser Beschluss sei gültig und habe Bestand.

Christian Schauer wies in einem Leserbrief kurz darauf auf die Entwicklung in anderen Kommunen hin. „Der Tatsache, den Antrag auf Umbenennung der Carl-Diem-Straße nicht behandeln zu wollen, widerspricht die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 2003. In diesem Jahr war ein derartiger Antrag in Alzenau zuletzt gestellt worden.
Seither sind viele Städte dazu übergegangen, Carl-Diem-Straßen, -wege und -hallen umzubennen. Diems Wirken wurde von Kommunalpolitikern kritischer gesehen. Städte wie Aachen (2007), Köln (2007/2008), Neuss (2009), Grevenbroich (2010) und Münster (2010) haben bereits Carl-Diem-Straßen und -Wege umbenannt und somit ein deutliches Zeichen der Distanz zu diesem braunen Sportfunktionär gesetzt. Die einst am Carl-Diem-Weg gelegene Deutsche Sporthochschule in Köln scheiterte 2008 vor Gericht mit dem Versuch, die Umbenennung der Straße in „Am Sportpark Müngersdorf“ zu verhindern. In seiner Geburtsstadt Würzburg wurde eine historische Entscheidung gefällt. Eine Sporthalle ist seit 2004 nicht mehr nach Carl Diem benannt.

Eine überzeugende Argumentation führte ein Kommunalpolitiker in Pulheim (Nordrhein-Westfalen) an, wo es 2009 auch zu einer Umbenennung kam: ‚Ich bin schockiert, das wir die Frage des ‚ob‘ hier überhaupt noch diskutieren müssen. Gegen das Leid, das dieser Mensch verursacht hat, die Änderungskosten für einen Briefkopf zu setzen, ist zynisch‘.

Eine der letzten Umbenennungen fand 2014 in Alsdorf statt. In den Aachener Nachrichten hieß es dazu abschließend: ‚Damit ist auch in Alsdorf vollzogen, was in anderen Städten bereits geschah. Dieser Prozess war zuletzt von allen Parteien unterstützt worden.‘

Alzenau stellt sich bisher als ziemlich einzigartig dar, was die Einschätzung von Carl Diem betrifft. Das muss nicht so bleiben.“

Mitte März wies er auf die NS-Verstrickung Carl Diems hin:Diems extremer Nationalismus und Militarismus zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben: Schon 1931 führte er in der Heeressportschule Wünsdorf folgendes aus: „Vom Standpunkt der Wehrgesinnung gilt es noch ein letztes zu beachten: Sporteinigkeit. Der nächste Krieg wird nicht mit den Kriegsfreiwilligen gewonnen, sowenig wie es im Weltkrieg möglich war, er ruht vielmehr auf dem Wehrwillen der Wehrflauen.“ Nach der Machergreifung 1933 war Sport für ihn „eine weihevolle Tätigkeit“ und „ein Dienst am Vaterland“.

Im Festspiel-Entwurf für das Deutsche Turn- und Sportfest 1938 in Breslau äußerte er seinen romantischen Militarismus: „Allen Spiels heil’ger Sinn, Vaterlandes Hochgewinn – Vaterlandes höchst‘ Gebot in der Not, Opfertod!“

Eine führerzentrierte Skidemonstration entwarf Diem 1940. Höhepunkt sollte eine „Gefechtsfeldübung der Wehrmacht“ und eine Hitleransprache sein. Sein Wunsch, Sportregimenter für die Blitzkriegskonzeption aufzustellen, scheiterte am Widerstand der SA. In einem Memorandum von 1941 begründete er die Beibehaltung weltumspannender olympischer Spiele wir folgt: „ Ich meine aber, daß man den Herrenstandpunkt der überlegenen Rasse nur dann auf Dauer durchhält, wenn auch eine körperliche Gesundheit und Kraft dahinter steht, und darum sehe ich in den Spielen für Europa genau das, was Coubertin in ihnen für Frankreich gesehen hat: die immer wiederkehrende Prüfung im härtesten Feuer und der stachelnde Anreiz, es den besten aller Völker gleichzutun. Wir wollen Weltspiele, weil wir der Welt zeigen wollen, was wir können!“

In einer Rede auf dem Reichsssportfeld vom 18. März 1945 zitierte er den Satz des griechischen Dichters Tyrtaios (7. Jahrhundert vor Christus): „Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland fällt.“

Dass Diem seine Rolle in der NS-Zeit in der Nachkriegszeit öffentlich bereut hat, ist nicht bekannt.

Angefangen hatte die Debatte Mitte März 2017. In einer Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses wurde beschlossen, das Bauleitplanverfahren für das ehemalige Gärtnerei Huth Gelände unter der neuen Bezeichnung »An der Carl-Diem-Straße« fortzuführen. Stadtrat Otto Grünewald (CSU) ist Anlieger dieser Straße. Er störte sich nicht an dem Bauprojekt in der Nachbarschaft. Doch nahm er das laufende Genehmigungsverfahren zum Anlass, auf ein »dauerhaftes Ärgernis« hinzuweisen. Seine Familie und andere wollten nicht länger in einer Carl-Diem-Straße wohnen.

Ende Juni 1996 war der Antrag mit folgender Begründung abgelehnt worden (Main-Echo vom 27.6.1996):“Keine neue Diskussion gab es zum Antrag der Grünen auf Umbenennung der Carl-Diem-Straße im Stadtteil Michelbach. Der Sportfunktionär war bereits bundesweit in die Kritik geraten, weil er während der NS-Zeit mit etlichen Äußerungen aufgefallen war. Der Stadtrat folgte mehrheitlich der Empfehlung des Kulturausschusses und ließ es bei der bisherigen Bezeichnung der Straße in Michelbach. Dabei beriefen Kulturausschuss und Stadtratsplenum sich auf ein Gutachten von Professor Teichler, das das Lebenswerk von Carl Diem ’nicht auf die Zeit des NS-Regimes reduziert‘ sehen wollte.“

Aller guten Dinge sind drei“ – sollte man meinen. Für Alzenau gilt das nicht. Hier gehen die Uhren anders. Die meisten haben wohl kein Interesse an der Thematik, den anderen fehlt die Distanz zur Vergangenheit. Die große Mehrheit der von der Stadt Befragten wollte die Beibehaltung des Namens (34 gegen 5). Diese Mehrheit ist bodenlos. Keiner dieser Menschen hat sich die Mühe gemacht, auf die Einlassungen der Umbenennungs – Befürworter Gegenargumente anzuführen.

Alzenau, 5.12.2017 Christian Schauer

Diem 1996

Debatte über Carl-Diem-Straße 1996 © Main-Echo

Diem 1996 zwei

Debatte über Carl-Diem-Straße 1996 © Main-Echo